A Requiem for a Childhood


Es war im Jahr 2011, als ich mit der Familie meines Stiefvaters meine Heimatstadt Riga für einen Sommerurlaub besuchte, zwanzig Jahre, nachdem meine Mutter und ich das Land verlassen hatten. Dem Fall der Mauer folgte der Zerfall der UdSSR und die restlichen europäischen Länder des Warschauer Pakts vor eine ungewisse Zukunft gestellt. Eine Zukunft, die eine Loslösung von der Vergangenheit und die Suche nach einer neuen Identität bedeutete, ohne sich dabei auf eine bestehende stützen zu können.


Knapp zwanzig Jahre nachdem ich das Land verlassen hatte, laufe ich nun mit Sergej, meinem dreizehnjährigen Stiefbruder, durch Kengarags, das Viertel, in dem ich aufgewachsen bin. Ich war wie er dreizehn Jahre alt, als ich einst ein intaktes Viertel mit Schulen, Kindergärten und Spielplätzen verließ. Eine dieser Plattenbausielungen, die abertausende Male im Copy-Paste-Verfahren von Sibirien bis nach Ost-Berlin hochgezogen wurden.


Damals, im Jahr 1992, hatte ich Riga verlassen, noch kaum fähig zu begreifen, was dieser Abschied für mich bedeuten würde. Nun, zwanzig Jahre später, kehre ich zurück und zeige meinem Stiefbruder, wo ich meine Kindheit verbracht habe. Die Straßen von Kengarags haben sich verändert. Das Leben um die plumpen Plattenbauten herum, dem einstigen Stolz sowjetischer Städtebaupolitik, wurde nun von der Natur triumphierend zurückerobert. Dornröschen-Platten im Tiefschlaf - kaum ein öffentliches Gebäude ist in seiner ursprünglichen Funktion erhalten geblieben. Meine Schule ist nun ein Verwaltungsgebäude, mein Kindergarten eine Autowerkstatt, der Spielplatz ein trostloser Parkplatz. Die verwinkelten Gassen des Viertels sind menschenleer. Wo ich einst mit zahlreichen Kindern gespielt habe, ist es still geworden.


Es ist ein eigenartiges Gefühl, hier zu sein. Die Geräusche und Gerüche versetzen mich schlagartig zurück an den Anfang der neunziger Jahre, in mein Viertel, in dem die Gesetze und Sitten der Großmacht UdSSR sich in nichts aufgelöst hatten. Es gab viel Jugend- und Bandenkriminalität damals im Viertel. Nach dem untergegangenen Weltmacht-Koloss schien niemand mehr zu wissen, wie es weitergehen sollte. Uns Kindern blieben damals die gesetzlosen Innenhöfe der Plattenbausiedlung. Mutproben zählten zu dem häufigsten Zeitvertreib. Wir spielten mit Streichhölzern, steckten Mülltonnen und Autoreifen in Brand, klammerten uns hinten an die Straßenbahnen, klauten Süßigkeiten, warfen mit Steinen Fensterscheiben ein. Manche der größeren Jugendlichen schnüffelten Klebstoff aus Plastiktüten, andere tranken Billigparfüm, weil es in der damaligen Mangelwirtschaft keinen Wodka zu kaufen gab.


Ich beobachte Sergej, wie er am Ufer der Daugava Steine ins Wasser wirft, meinen Schulweg entlang des Flusses abläuft und vom Balkon eines Hochhauses auf meine ehemalige Schule herabblickt. Es scheint so, als würde ich mich selbst dabei beobachten, und ich stelle zu meiner eigenen Verwunderung fest, dass ich eine schöne und wilde Kindheit hatte. Eine Kindheit, wie sie von Mark Twain nicht besser hätte romantisiert werden können.